2.

Ich erwecke vielleicht den Eindruck, dass ich immer an Rymans Seite war. Das möchte ich nicht. Immer, wenn ich meinen Wetterbeobachtungsaufgaben nachkam, hielt er sich in der Regel fern, sicher wegen meiner Verbindung zum Militär. Meistens arbeitete ich allein, wenn ich für Whybrow Ballons aufsteigen ließ. Ziemlich oft trat ich dabei in Kuhfladen, wenn ich mit der Schnur des Ballons über die Weide lief und den Kupferdraht der Antenne hinter mir herzog.

Doch Ryman war anscheinend zugänglicher geworden, und wenn er seine eigenen Experimente durchführte, rief er mich oft zu sich. Bei einem davon maßen wir die Windgeschwindigkeit - dieses komplexe Problem, das er damals am ersten Sonntag angesprochen hatte -, indem wir mit einem speziellen meteorologischen Gewehr Metallkugeln verschiedener Größe in die Luft schössen: drei Kugeln in der Größe eines Apfels, fünf in der einer Pflaume, fünfzehn in der einer Kirsche.

Ich hatte die Aufgabe, nach jedem Schuss die Entfernung des Aufschlagpunkts abzuschreiten, sofern die Kugel aufzufinden war. Ich weiß noch, wie ich einmal mit nassen Knien und nassen Schuhen unter einem Baum stand und mich fragte: »Was verdammt noch mal mache ich hier? Warum gebe ich nicht einfach auf?« Dann rief Ryman auf der anderen Seite der Weide ins Megaphon, ich solle mich beeilen. Ich rannte durch das Gras zu ihm und schlug in meiner Eile fast hin.

»Schönes Beispiel für den Einfluss der Reibung auf menschliches Wirken«, sagte er. »Was?«

»Über unebene Grasflächen zu laufen.«

In dem Moment erschien die für meteorologische und Fotoeinsätze ausgerüstete Junkers wieder am Himmel und flog tief über das Feld. Ich hätte schwören können, dass der Pilot uns ansah, als er vorbeirauschte, aber Ryman tat die Vorstellung ab. Vielleicht wollte er es nicht wahrhaben, dass der Krieg so nah war.

Genauso wenig reagierte er, als ich ihm hingekauert erzählte, dass ich das Flugzeug schon zweimal gesehen hatte. Seine einzige Reaktion war, dass er das meteorologische Gewehr ins Gras warf, wahrscheinlich, damit es nicht für eine Angriffswaffe gehalten wurde.

»Verwechseln sie Zufälliges nicht mit Geplantem«, rief er durch den Lärm des Motors, als das Flugzeug noch einmal über uns hinwegflog. »Weil wir einen Feind haben, kommen wir schnell auf den Gedanken, dass er genau an dieser Stelle in der Luft aufgetaucht ist, um uns anzugreifen; dabei ist es genauso wahrscheinlich, dass er nur zufällig hier vorbeigeflogen ist.«

Ich war erstaunt, dass er zu so einem Zeitpunkt solchen Unfug reden konnte. »Sollen wir nicht lieber in Deckung gehen?«, erwiderte ich geduckt vor dem hallenden Lärm des Flugzeugs.

Doch Ryman stand stocksteif, seine Silhouette das perfekte Ziel. Da ich nicht feige wirken wollte, auch wenn ich mich so fühlte, stand ich auf und stellte mich neben ihn. Wir warteten darauf, dass das Flugzeug am Ende seiner Bahn wieder eine Kurve flog. Es hatte aber andere Pläne und setzte seinen Weg in die Ferne fort.

»Brauchen wir nicht«, sagte Ryman, der das Kreuz aus Tragflächen und Heck beobachtete. »Es verschwindet.«

Er hatte recht. Das Brummen wurde leiser, und das Flugzeug setzte seinen Weg fort, bis es mit dem Horizont verschmolz.

Erst als das Geräusch der Maschine verschwunden war, sprach ich wieder. »Gewöhnliches ist gewöhnlich. Seltenes ist selten. Wie gesagt habe ich dieses Flugzeug schon zweimal gesehen. Ein deutsches Flugzeug über Kilmun ist selten. Das legt den Schluss nahe, dass es aus einem besonderen Grund hier ist und nicht zufällig.«

Ryman schüttelte den Kopf, bückte sich und hob das Gewehr auf. Er lud es wieder mit Metallkugeln. »Sie zeigen ein ganz normales menschliches Verhalten - Sie unterschätzen den Zufall.«

»Das ist kein Zufall mehr!«, protestierte ich frustriert. »Das war heute das dritte Mal. Die Home Guard ist schon alarmiert worden. Wir sollten jemanden kommen lassen, der es abschießt.«

»Damit will ich nichts zu tun haben.«

Ich konnte es nicht begreifen, dass sich jemand an solchen Ideen festklammerte, während alliierte Truppen starben. »Sehen Sie es denn nicht als Ihre Pflicht, für Ihr Land zu kämpfen?«

»Ganz im Gegenteil. Meine Pflicht ist es, dafür zu sorgen, dass die Kämpfe aufhören. Deshalb bin ich aber kein Feigling. Im Ersten Weltkrieg war ich in der Quäker-Sanitätereinheit, wissen Sie. Bei uns gab es keine Feiglinge.«

»Ich habe nicht gesagt, dass Sie ein Feigling sind«, stammelte ich und war mir plötzlich unsicher.

Einen Moment lang hörte er auf, Kugeln zu zählen. »Ich kann Ihnen aber versichern, dass ich Angst hatte. Es war die furchterregendste Erfahrung meines Lebens.«

»Was haben Sie in der Einheit gemacht?«

»Unsere Aufgabe war es, die Schwerverletzten vom poste de secours in den vorderen Gräben zum nächsten Krankenhaus zu bringen. Ich werde nie den Gestank von verbranntem Fleisch vergessen oder die Schreie der armen Männer, wenn wir durch ein Schlagloch fuhren. Der Verkehr auf den Straßen hinter den Gräben war völlig chaotisch. Militärwagen, Lastwagen, Krankenwagen wie unserer, Panzer, auch Pferdekutschen und Verwundete, die durch den Matsch stapften. Bei einem Bombenangriff habe ich mal einen Mann mit amputiertem Bein überfahren. Er hatte eine Krücke und so einen ... Stumpf. Der Verband hatte sich abgewickelt und lag in einer Pfütze ...«

Sichtlich verstört nahm er die Brille ab und rieb sich die Augen. »Ich hoffte fast, selbst ein Bein zu verlieren. Dann hätte ich mit reinem Gewissen nach Hause fahren können. Ich konnte einfach keine zerbombten und verbrannten Dinge mehr sehen. Dieser verdammte Krieg! Nach einer Zeit geschah gar nichts mehr - es wurden nur noch Opfer angehäuft. Es ging anscheinend nur noch aus Trägheit weiter; die ursprünglichen Gründe waren zwar nicht vergessen, aber in den Hintergrund gerückt. Es hätte schon viel früher Frieden geben können, wenn die Entscheidungsträger dazu bereit gewesen wären und nicht weitergemacht hätten, nur um behaupten zu können, sie hätten gewonnen ...«

Er hielt inne und sah zu Boden, als wollte er eine ferne Szene heraufbeschwören, nicht aus der Erinnerung, sondern aus der Hölle.

»Manchmal, wenn ich die Totengasse entlangfuhr, wie wir sie nannten, musste ich um die Leichen von Wachposten und Pferden herumfahren, die ich auf dem Hinweg noch lebendig gesehen hatte. Ich war sowieso ein schlechter Fahrer, weil ich immer meinen Traum sah und nicht den Verkehr.«

»Ihren Traum?«

»Das System. Meine Theorie der numerischen Wettervorhersage. Den ersten Entwurf habe ich während der Schlacht in der Champagne geschrieben. Dann habe ich ihn eine Zeitlang verlegt und irgendwann unter einem Haufen Kohle in meiner Unterkunft wiedergefunden.«

»Ich würde sehr gerne einmal einige Ihrer Berechnungen lesen«, sagte ich, weil ich die Gelegenheit roch. »Sind Sie damals auch auf die Ryman-Zahl gekommen?«

Er nahm wieder die Brille ab und sah mich fragend an. »Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich sie nicht so nenne ...«

»Ich muss zugeben, dass ich nicht ganz verstehe, wie man eine Reihe von Werten verbindet«, setzte ich fort.

Ich merkte, dass er mir skeptisch direkt ins Gesicht sah. Verdächtigte er mich? »Sie ist nur ein Maß«, sagte er ruhig. »Ein Maß veränderlicher Umstände. Das wissen Sie doch wohl?«

Ich fragte mich, ob ich zu viel gesagt hatte, denn er sah mir noch einmal ins Gesicht und verstummte dann, was ich als Aufforderung deutete, das Experiment fortzusetzen. Nach einer guten halben Stunde packten wir ein, und ich folgte ihm zu seinem Haus, ohne dass wir miteinander sprachen. Mrs Ryman beobachtete uns durch das Wohnzimmerfenster. Ein Sonnenstrahl fiel auf sie, und ihr schwangeres Profil war deutlich zu sehen. Das Licht gab ihrem Haar einen rötlich-kastanienfarbenen Ton und schien sie zu umschließen.

Ryman warf mir einen kurzen Blick zu, verabschiedete sich und eilte mit dem meteorologischen Gewehr über der Schulter wie ein Soldat nach drinnen.

Als ich wieder den Hang hinaufging, drehte ich mich um und sah, vom gleichen Fenster gerahmt und ins gleiche Licht getaucht, wie Gill und er sich in die Arme fielen.

 

Die Geometrie der Wolken
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